Philosoph Thomas Metzinger erklärt, wie virtuelle Realität das Leben verändert
Hightech-Brillen und Computerspiele entführen immer
Menschen in eine andere Wirklichkeit. Doch das sei erst der Anfang, sagt
Thomas Metzinger, Professor für theoretische Philosophie an der Uni
Mainz. Im Interview mit der MITTELBADISCHEN PRESSE spricht er über
Demokratie, Liebe und Pornographie in der virtuellen Realität. Am
Montag hält er in der Offenburger Reithalle ab 19 Uhr einen Vortrag.
■Herr Metzinger, die klassische Realität
verschmilzt durch die digitalen Innovationen zunehmend mit der
virtuellen Realität. Ist das schlimm?
THOMAS METZINGER: Das könnte sowohl eine
Bereicherung als auch eine Bedrohung für unsere geistige Gesundheit
sein. Die »klassische Realität « gibt es so auch nicht – die subjektiv
erlebte Wirklichkeit wird ebenfalls im Gehirn erzeugt. Was wir
normalerweise bewusstes Erleben nennen, ist eine virtuelle Realität, die
neuronal realisiertwirdundschon seit Millionen Jahren in den
Nervensystemen von biologischen Systemen optimiert worden ist.
Eigentlich ist es nur so, dass wir auf eine wesentlich ältere Form der
virtuellen Realität jetzt neue Technik aufsetzen.
■Wo liegen dabei die Bedrohungen?
METZINGER: Man kann sich vorstellen, dass es
zumBeispiel Depersonalisationsstörungen gibt. Das heißt, dass Leute,
nachdem sie sich längere Zeit mit Avataren (virtuelle Personen im
Internet, d. Red.) identifiziert haben, ihren sogenannten normalen
Körper danach erst mal als unwirklich erleben. Es ist möglich, dass sich
die moralische Persönlichkeit verändert. Es kann auch einfach sein,
dass der virtuelle Inhalt so attraktiv wird, dass das Suchtpotenzial
noch viel höher liegt als bei den jetzt bekannten Formen von
Unterhaltung.
■Aber dass man völlig in ein anderes Leben eintaucht, ist doch auch beimLesen von Romanen so.
METZINGER: Menschen haben sich immer mediale
Umwelten geschaffen, auch schon vor Romanen, zum Beispiel im
Schamanismus oder durch archaische Ekstasetechniken. Es ist eine
allgemeine menschliche Fähigkeit, sich mit Geistern oder mit dem Stamm
oder der Nation zu identifizieren. Oder eben mit dem Protagonisten in
einem gut geschriebenen Roman. Das ist eine lange Menschheitstradition,
die jetzt technisch radikalisiert wird.
■Worin besteht dann das Neue, das Radikale?
METZINGER: Ich sehe die virtuelle Realität als
Bewusstseinstechnologie. Schauen Sie sich die technische Entwicklung an:
Wir haben bessere Augen gebaut, bessere Beine, bessere Flügel. Und
jetzt bauen wir besseres bewusstes Erleben. Wir kommen näher an den Kern
des phänomenalen Erlebens selbst heran. Virtuelle Realität eröffnet
auch viele tolle neue Möglichkeiten, etwa in der Bildung und der
Psychotherapie. Sie wird vielen Menschen helfen. Die Frage ist nur, ob
wir damit erwachsen umgehen können. Das können wir ja mit anderenDingen
auch nicht, zum Beispiel mit Alkohol oder Smartphones oder Autos.
■Für Alkoholkonsum und Autofahren gibt es eigene Gesetze. Brauchen wir das für die virtuelle Realität auch?
METZINGER: Ich nenne ein Beispiel, die
Pornoindustrie. Die sollte man jetzt sehr genau beobachten. Denn es
besteht die Möglichkeit, dass strafbare Handlungen, die auf diese Art
aufgezeichnet worden sind, für Leute auf eine neue Art konsumierbar
werden: völlig eingetaucht und wesentlich realistischer als in
»altmodischen« Gewalt- oder Kinderpornos. Somit entsteht ein Anreiz,
solche strafbaren Handlungen auf diese neue Weise aufzuzeichnen. Damit
verbunden ist die Frage, ob in der virtuellen Realität dieselben Regeln
gelten sollten wie in der wirklichen Realität.
■Und, sollten sie?
METZINGER: Bevor wir detaillierte, bessere Ideen
haben, auf jeden Fall. Wenn sexuelle Belästigung auf der Straße strafbar
ist, sollte sie es auch in der virtuellen Realität sein. Die
psychologische Traumatisierung, die Verletzung der Würde ist
vergleichbar, auch wenn kein realer biologischer Körper beschädigt
wurde.
■Ich schaue mal noch weiter in die Zukunft: Werden
eines Tages Chips ins menschliche Gehirn eingepflanzt, die das
Bewusstsein steuern?
METZINGER: Menschen werden, falls es solche
Möglichkeiten geben sollte, diese immer ausprobieren. Die Erweiterung
des eigenen Bewusstseins scheint eine anthropologische Konstante zu
sein. Ob uns das weiterbringt, ist eine andere Frage. Aber es gibt
hinter all dem natürlich eine starke kapitalistische Verwertungslogik:
Große Konzerne wollen damit Geld verdienen. Ich denke, dass wir gerade
erst die Anfänge einer neuen Entwicklung erleben. Fachleute sprechen von
unserer »kognitiven Nische«, das heißt Menschen werden in eine Sprache,
ein Zahlensystem oder eine Kultur hineingeboren. Ihr Denken passt sich
in der Kindheit dem an, was sie vorfinden. Diese Anpassung an
neuekognitiveNischenwird radikalisiert, wenn in zehn oder 20 Jahren die
virtuelle Realität zur Alltagstechnologie wird und Kinder damit
aufwachsen. Da wird sich der menschliche Geist an diese neuen
Begebenheiten anpassen.
■Was heißt das?
METZINGER: Wenn man sich vorstellt, dass viele
Kinder mit kleinen Spielrobotern oderAvataren aufwachsen, mit denen sie
in Märchenspielen interagieren, noch bevor sie sprechen gelernt haben –
da könnte eine Generation heranwachsen, für die die Unterscheidung
zwischen lebend und tot, zwischen wirklich bewusst und bloßer Maschine
nicht mehr so klar ist wie für uns. Für sie wäre die Welt wieder mit
Geistern besessen, die sie auch real finden.
■Das heißt die Welt wird wieder stärker verzaubert?
METZINGER: Es wird Leute geben, die versuchen ihre
Welt zu verzaubern. Es könnte aber auch zu dem führen, was ich in dem
Buch »Der Ego-Tunnel« »Selbstentzauberung« genannt habe. Immer mehr
Menschen könnten merken, wie stark manipulierbar ihr eigenes Bewusstsein
ist. Es könnte also auch eine Wende im Menschenbild geben, die zu einer
Entzauberung führt.
■Welche politischen Folgen könnte die virtuelle Realität haben?
METZINGER: Indem man solche Technologien
beeinflusst, könnte jemand auf die Idee kommen, dieBevölkerung ineine
bestimmte Richtung zu lenken. Avatare werden immer intelligenter, sie
werden richtige Mimik und Blickfolgebewegungen haben, in natürlicher
Sprache kommunzieren. Sie werden in uns emotionale Reaktionen auslösen
und uns etwa beim Einkaufen beraten. Das könnte uns in unserem
Selbstverständnis berühren und zu sozialen Halluzinationen führen.
■Das heißt die demokratische Kultur könnte noch emotionsgesteuerter werden?
METZINGER: Es gibt wissenschaftliche Studien aus den
USA, die zeigen, wie Wähler schon heute tatsächlich sind: inkompetent,
irrational, schlecht informiert und nationalistisch. Also nicht so, wie
Demokratietheoretiker sie sich vorstellen.Das könnteman verschärfen,
indem man die Leute durch Unterhaltungstechniken immer weiter verblödet
oder politische Manipulation betreibt, etwa durch Bots und
automatisierte Twitter-Kampagnen. Wirmüssen sehr aufpassen, dass wir
unsere demokratische Kultur schützen. Große Teile der jungen Generation
könnten so stark durch mediale Umwelten gebannt sein, dass sie apathisch
und entpolitisiert werden – denken Sie nur an den Brexit.
■Wenn virtuelle Realität das menschliche Bewusstsein
so stark verändert – kann man eines Tages auch Liebeskummer damit
beseitigen?
METZINGER: Die Frage ist, was es bedeutet,
Liebeskummer zu beseitigen. Man kann ihn pharmakologisch beseitigen,
wenn man das Erlebnis nicht mehr haben will, oder man kann ihn
psychologisch bearbeiten. In der virtuellen Realität könnten Sie Ihre Ex
vielleicht noch mal ganz realistisch sehen und erleben – oder auch
ihren verstorbenen Großvater. Die Frage ist, ob das so gut wäre.
■Kann man andersrum durch virtuelle Realität echte Liebe erzeugen?
METZINGER: Dahinter steckt wieder ein Mythos der
Authentizität. Was macht Liebe echt? Man könnte argumentieren, dass
Liebe auch ohne virtuelle Realität oft gar nicht echt ist, weil die
Evolution in uns Mechanismen eingebaut hat, die wir selbst gar nicht
ganz durchschauen. Verliebtsein ist etwas, das einem widerfährt und
wodurch man einen Kontrollverlust erlebt. Man könnte sagen, es handelt
sich um eine Krankheit, eine Form von Besessenheit, wenn man böse sein
wollte. Ist Liebe nur echt, wenn sie durch Duftmoleküle und direkte
körperliche Berührung ausgelöstwird? Es gibt heute schon viele Leute,
die sich im Internet verlieben.